Science-Fiction – Mehr als Krieg in unendlichen Weiten

Eva Bergschneider von phantastisch-lesen.com wirft einen Blick auf Science-Fiction-Literatur gestern und heute.

Unübersehbar erlebt die Science-Fiction Literatur derzeit eine Renaissance, nachdem sie in den letzten 15 – 20 Jahren eher ein Nischendasein fristete. Phantastische Literatur – das hieß seit der Jahrtausendwende in erster Linie Fantasy. Mit den »Der Herr der Ringe«-Filmen kam der Boom der Völker-Fantasy, mit den »Harry Potter«-Romanen und Filmen der Boom der Urban-Fantasy. Science-Fiction fand zwar auf der Kinoleinwand und im TV statt, literarisch aber nur bei spezialisierten Kleinverlagen und einigen wenigen großen Verlagshäusern wie Bastei-Lübbe oder Heyne. Doch nun scheint sich das Blatt zu wenden und immer mehr Verlage entdecken die Science-Fiction neu oder wieder.

Waren Weltraumschlachten in unendlichen Weiten und Außerirdische »out« und sind nun wieder »in«? Oder hat sich die Science-Fiction Literatur gewandelt?

Schaut man sich in den derzeitigen Verlagsprogrammen um, fällt auf, dass Science-Fiction-Literatur weiterhin das Universum erforscht und erobert, jedoch zunehmend auch andere Themen in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Themen wie Toleranz, kulturelle Vielfalt, Humanismus und Philosophie. Das ist kein neues Phänomen, SF-Literatur hat sich schon immer mit diesen Fragen beschäftigt und sie in die Zukunft projiziert. In den letzten Jahren ist scheinbar der Bedarf an Literatur mit diesen Themen gestiegen und die moderne Science-Fiction bietet sich als Plattform dafür an. Internationale und deutsche Autoren nutzen diesen Trend für Romanveröffentlichungen, als Selfpublisher oder in Zusammenarbeit mit kleinen oder großen Verlagen.

Exemplarisch stelle ich Ihnen alte und neue Science-Fiction Bücher vor, die aus der Reihe tanzen und wenig mit den üblichen Space Operas oder Military-SF Büchern gemein haben. Vielmehr stellen Sie brisante Themen unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt und nehmen dabei eine futuristische Perspektive ein.

»Blumen für Algernon« von Daniel Keyes, im Original 1966 erschienen, die deutsche Ausgabe erschien 2006 bei Klett-Cotta

512xjQe8mKL._SX303_BO1,204,203,200_Charlie Gordon ist 32 Jahre alt, Hilfsarbeiter in einer Bäckerei und debil. Seinem Ehrgeiz hat er es zu verdanken, dass er ein wenig schreiben und lesen kann. Charlie wurde für ein Experiment ausgewählt, eine Gehirnoperation soll ihn intelligent werden lassen. Es klappt, nach der OP erwirbt Charlie Wissen in sämtlichen Fachbereichen. Jeden Tag mehr. Bis er schließlich die ihn behandelnden Neurologen und Wissenschaftler an Fachkenntnissen überflügelt. Wie weit wird sich Charlies Intelligenz noch weiterentwickeln? Und was bedeutet dies für ihn als Mensch?
Charlie erzählt das Geschehen aus seiner Sicht in einfachen, kompromisslos ehrlichen Worten, die den Leser direkt für sich einnehmen. Nach der Operation wird die Sprache immer verständlicher, die geschilderten Sachverhalte komplexer. Wie Keyes diese Entwicklung allein sprachlich gestaltet, ist hohe Erzählkunst. Noch beeindruckender ist es, die emotionale Entwicklung Charlies mitzuerleben, den schleichenden Verlust der Unschuld.

Ein zeitloser Klassiker

Zeitlose Klassiker lassen sich keiner bestimmten Epoche zuordnen und vermitteln eine Botschaft, die in der Vergangenheit Relevanz hatte und voraussichtlich in Zukunft haben wird. »Blumen für Algernon« ist in diesem Sinne zeitlos. Der Roman spielt in einer nicht näher bestimmten Zukunft und setzt sich mit der Frage auseinander, was den Menschen ausmacht. Ist es Intelligenz oder die Empfindungsfähigkeit? Was bedeutet Glück? Wann ist ein Mensch wertvoll? Daniel Keyes Klassiker zeigt, dass Science-Fiction Literatur die Entwicklung des Menschen in einer sich wandelnden Gesellschaft diskutiert. Die Geschichte in »Blumen für Algernon« entstand zwar vor mehr als 50 Jahren, spiegelt aber dennoch ein zeitgemäßes Phänomen wieder: Menschen müssen immer schneller lernen. Das Einschulungsalter wurde herabgesetzt, die Lerndauer bis zur allgemeinen Hochschulreife verkürzt. Wie wirkt sich Turbobildung auf die emotionale Entwicklung des jungen Menschen aus? Und welchen Platz in unserer Welt bekommen jene zugewiesen, die diesem Bildungstempo nicht folgen können?

»Herr aller Dinge« von Andreas Eschbach, 2011 bei Bastei-Lübbe erschienen

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In Tokio treffen sich zwei ganz unterschiedliche, ungewöhnlich begabte Kinder. Charlotte ist eine behütete Diplomatentochter mit einer ausgeprägten Fremdsprachenbegabung und einem sechsten Sinn. Sie kann die Geschichte und Emotionen von Gegenständen erfühlen. Hiroshi ist der Sohn einer Wäscherin, die in dem Diplomatenhaushalt arbeitet. Er ist ein Technikgenie und ein Fan von Robotern. Die beiden werden Freunde. Hiroshi entwickelt schon früh eine Vision, wie er sich und alle Menschen reich machen kann, während Charlotte eine gefährliche Entwicklung in einem japanischen Messer erspürt. Nach einer Trennung treffen sich Hiroshi und Charlotte wieder und stehen am Anfang einer Reise, die der Menschheit Zukunft und Vergangenheit ein vollkommen neues Gesicht verleihen wird.

Vom Jugendroman zur Anti-Utopie

»Herr aller Dinge« beginnt wie ein klassischer Jugendroman, Ein Mädchen aus reichem Haus freundet sich mit einem Jungen aus armen Verhältnissen an. Doch ihre Wege trennen sich wieder und es scheint sich die klassische Geschichte von Liebenden abzuzeichnen, die nicht zueinander finden können.
Als der Autor schließlich Hiroshis Methode präsentiert, die die Armut der Welt zu überwinden soll, ist er klar in seinem Element. Eschbach stellt fundierte technologische Fachkenntnisse unter Beweis. Ökologische Themen wie Klimaerwärmung und Umweltvergiftung sind ein natürlicher Teil dieser packenden Story, sie wirken nie wie Info-Dumping. »Herr aller Dinge« diskutiert die Folgen der Konstruktion einer perfekten Maschine mit allen denkbaren Konsequenzen für die Menschheit und bis zum bitteren Ende. Zurück bleiben Ernüchterung und Nachdenken, lange über das Ende der Lektüre hinaus.

»Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten« von Becky Chambers, 2016 bei Fischer-Tor erschienen

519q5ZYcMZLRosemary Harper heuert auf dem Tunnler-Raumschiff »Wayfarer« an, das Wurmlöcher in das Weltall bohrt und verschiedene Galaxien verbindet. Ein nicht ungefährliches Unterfangen, das Captain Ashby Santoso mit einer Crew aus verschiedensten Spezies souverän erledigt. Doch dann steht ein besonders heikler Auftrag an, ein Tunnel zum Raum der Toremi Ka, einer kriegerischen Spezies. Auf dem langen Weg in das unerschlossene Gebiet lernt Rosemary die Crew kennen. Sie erkennt, dass nicht nur sie selbst, sondern jeder ihrer Kameraden ein Geheimnis mit sich trägt, das er vor den anderen verbergen möchte.

Space-Seifenoper über Leben, Liebe, Freundschaft und den ganzen Rest.

Der eigentliche Handlungsplot vom Auftrag, einen Tunnel in ein Kriegsgebiet zu bauen, hätte auf weitaus weniger als 539 Seiten Platz gepasst. In »Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten« von Becky Chambers begleiten diesen Plot viele zusätzliche Geschichten und stellen die wesentlichen Elemente dieses Romans dar. Das Thema kulturelle Diversität, aus der ein intensives Miteinander erwächst, die eine Gesellschaft bereichert und zusammenhält, steht im Mittelpunkt. »Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten« konzentriert sich nicht auf die technischen Möglichkeiten einer Gesellschaft, die zu den Sternen reist. Es geht um das alltägliche Leben, die Gemeinschaft und Konflikte der Protagonisten der »Wayfarer« auf ihrer langen Reise ins Ungewisse. Intime Momente und Konflikte erleben die Angehörigen jeder Spezies anders und so verändert sich ständig der Blickwinkel, erweitert sich der Horizont. Becky Chambers Roman feiert die ‚multispezielle‘ Gesellschaft und ihr Romandebut hebt sich angenehm von den zuletzt omnipräsenten Weltuntergangsszenarien ab. »Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten« vermittelt vielmehr ein positives Lebensgefühl mit emotionalem Tiefgang.

Unterhaltung oder Anspruch? – Science-Fiction kann beides

Viele populäre Klassiker der Science-Fiction wie die Werke von Isaac Asimov, Arkadi und Boris Strugatzki und Philip K. Dick widmeten sich ebenfalls gesellschaftskritischen Themen. Vor allem die russischen Autoren nutzten fiktionale Geschichten um Roboter und Aliens für Systemkritik in verklausulierter Form, denn offene Kritik war zur Zeit des kalten Krieges in der Sowjetunion nicht ohne Strafe möglich. Die hier vorgestellten Romane stehen exemplarisch für Bücher aus dem Science-Fiction Genre, in denen Roboter, Aliens und Reisen im Weltraum nicht oder lediglich als Ausdrucksmittel für die eigentliche Botschaft vorkommen. Vielmehr stehen hier Visionen darüber, wie sich unsere Gesellschaft unter veränderten Rahmenbedingungen entwickeln würde, im Mittelpunkt. Was wird aus Menschen mit begrenzten geistigen Fähigkeiten, die plötzlich intelligent werden? Wie reagiert ihre Umgebung? Was passiert mit uns, wenn jemand die ultimative Maschine erfindet, die scheinbar jedes Problem zu lösen vermag? Und wie kann der Mensch mit vollkommen andersartigen Geschöpfen in perfekter Harmonie leben?
Science-Fiction-Bücher stecken also voller philosophischer Themen und stellen somit eine bedeutungsvolle, sogar hohe Literaturgattung dar. 2017 war quantitativ, wie qualitativ ein besonders ertragreiches Jahr für das Genre. Viele ganz unterschiedliche Science-Fiction -Romane warten darauf, von Ihnen entdeckt zu werden. Zukunftsliteratur ist nicht nur spannend, sondern sie erweitert den Horizont, sie ist im besten Sinne anspruchsvolle Unterhaltung.

Welche Science-Fiction-Romane würden Sie Lesern, die nichts mit den üblichen Science-Fiction Themen wie Roboter, Aliens, und Weltraumschlachten anfangen können, empfehlen? Diskutieren und kommentieren Sie gerne!

Eva-BR

Eva Bergschneider schreibt auf phantastisch-lesen.com am liebsten über Fantasy, gern auch über gesellschaftskritische Romane des Phantastik-Genres wie Science-Fiction und Steampunk.

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