Die Drachen in J. R. R. Tolkiens Mittelerde – Übersetzt von Lisa Kuppler
»Ich wünschte mir Drachen mit einer tiefen Sehnsucht. Natürlich wollte ich mit meinem furchtsamen Körper sie nicht direkt als Nachbarn haben.
Aber eine Welt, die auch nur die Vorstellung von Fáfnir enthielt, war reicher und schöner,um den Preis jedweder Gefahr.«
– J. R. R. Tolkien, aus seinen Tagebüchern
Smaug der Goldene nimmt eine ganz besondere Stellung in der Geschichte der Drachen ein. J. R. R. Tolkiens Smaug ist in vieler Hinsicht ein traditioneller Drache, ein direkter Nachfolger von Fáfnir und Beowulfs Fluch. Dennoch ist er auch der erste Drache, der im Zentrum eines modernen Fantasy-Romans steht und im Alleingang das literarische Genre der heroischen Fantasy etablierte. Smaug, der letzte der althergebrachten »Würmer«, verkörpert in der modernen Fantasy den archetypischen Drachen.
Als Bilbo, bewaffnet mit einer beträchtlichen Portion Mut und nicht viel mehr, in die dunklen Tiefen von Erebor hinabsteigt und endlich die Schatzkammer der Zwerge erreicht, trifft er dort auf einen Drachen. Der entspricht dem, was man sich unter einem märchenhaften Drachen vorstellt, aber er besitzt auch Aspekte eines dunklerer nid-draca.
Da lag er, ein gewaltiger rotgoldener Drache in tiefem Schlaf. Ein Dröhnen kam aus seinem Maul und seinen Nüstern, und Rauchfäden stiegen auf, aber sein Feuer schwelte nur, wenn er schlief. Unter ihm, unter seinen Gliedmaßen und dem riesigen zusammengerollten Schwanz und überall ringsum, so weit der Boden zu übersehen war, lagen haufenweise ungezählte Kostbarkeiten, Gold, geschmiedet oder roh, Gemmen und Edelsteine und Silber, das in der Glut rötlich schimmerte. Mit angelegten Flügeln, wie eine unermesslich große Fledermaus, lag Smaug ein wenig auf die Seite gedreht, so dass der Hobbit seine Unterseite und den langen, bleichen Bauch sehen konnte, der sich in den vielen Jahren auf diesem kostbaren Bett mit einer Kruste von Gemmen und Goldstücken bedeckt hatte. 1
Smaugs unbezahlbare Weste aus Diamanten ist ein interessanter erzählerischer Kniff, vor allem aber eine Verkleidung. Bei den meisten Figuren im Hobbit verhält sich das ähnlich – sie sind Mythen, die sich in einer Geschichte für Kinder verstecken, dabei aber nicht substantiell verfälscht wurden wie viele der Märchen der Gebrüder Grimm und ältere Geschichten. Die Juwelenrüstung Smaugs ist u.a. eine Umkehrung der Siegfried-Legende. Die verletzliche Stelle, die einem Lindenblatt geschuldet ist, das dem Helden auf das Schulterblatt fällt, als er in Drachenblut badet, wird zurück auf den Drachen übertragen. (Tolkien gibt nie eine Erklärung für Smaugs Habgier, und es braucht auch keine. Bilbo ist wie der Fuchs bei Phaedrus und stellt sich dem Drachen in seiner Höhle voller Schätze. Es liegt einfach in der Natur Smaugs, Gold zu lieben.) Während ihrer Unterhaltung erhält Smaug durch den Zauber seiner Stimme mehr Informationen von Bilbo, als dieser je preisgeben wollte. Fáfnirs Stimme besitzt die gleiche Macht – das hinterlistige Gift seiner cleveren Weisheit und redegewandten Überzeugungskraft. Tolkien bemerkt (in Bezug auf Beowulfs Fluch): »In den späten nordischen Fassungen der Sigurd-Legende ist Fáfnir besser, und offensichtlich steht Smaug mit seiner Konversationsgabe hier in der Schuld.«2 Tolkien hat immerhin auch einen mit Edelsteinen besetzten Becher von Beowulf gestohlen.
Doch Tolkien gibt Smaug noch etwas ganz Eigenes: der Feuerdrache aus dem Norden ist neugierig, fast wissbegierig, und zweifellos genießt er die Gesellschaft des kleinen Diebs. Dies ist in vieler Hinsicht eine erschütternde Erkenntnis: Smaug ist der Letzte seiner Art, er hat kaum noch Gelegenheit zu einem guten Gespräch. Als Bilbo jedoch den Becher stiehlt, kommt Smaugs Drachennatur zum Vorschein. Sein feuerspeiender Angriff auf Seestadt ist der Beginn der letzten, tödlichen Konfrontation mit dem Nachkommen des Girion von Thal. Im Hobbit mag einem Bard als eine altertümliche und distanzierte Figur erscheinen, doch er ist ein Held aus dunklen Zeiten und alten Sagen, der hier völlig unvorbereitet in ein Kinderbuch hineinschreitet. Ihm bleibt keine andere Wahl: Es gilt einen Drachen zu töten.
Selbst noch nach seinem Tod verbreitet Smaug etwas von der Angst, die auch eine der Waffen Fáfnirs war. Nachdem er in den Langen See gestürzt war und dabei Esgaroth zerstörte, sind seine Knochen noch lange Zeit unten im Wasser zu sehen, doch niemand wagt es, hinunterzutauchen und die Edelsteine zu holen, die einst seinen Bauch schmückten.
In Tolkiens Vorstellung war Mittelerde in einem früheren Zeitalter einmal mit Drachen bevölkert gewesen. Seine Drachen lassen sich in mehrere Kategorien unterteilen, die wichtigsten darunter sind die Urulóki oder Feuerdrachen, geflügelte oder flügellose Feueratmer. Dazu kommen die »Kaltdrachen«, die nicht fliegen können und auch kein Feuer atmen. Im Hobbit erwähnt Tolkien noch die faszinierenden »Werwürmer«, die [in der Verfilmung] in der Schlacht der Fünf Heere mitkämpfen. Was genau Werwürmer sind, erwähnt Tolkien nicht.
Darüber hinaus verweist Tolkien noch auf Kreaturen, die von Melkor (in dieser Textfassung Melko genannt) erschaffen und animiert wurden. Sie ähneln Drachen und speien Feuer, doch sie sind nicht lebendig. Melko kreiert diese »Drachen aus Feuer« und »Schlangen aus Bronze und Eisen«, als er sich auf seinen Angriff auf die mächtige Stadt Gondolin vorbereitet. »[Meglin, Gondolins Verräter] riet [Melko, dem Gebieter über Eisen] aus dem Überfluss an Metallen mit seiner Gewalt über das Feuer Untiere zu machen, Schlangen und Drachen von unwiderstehlicher Kraft, welche über die Umzingelnden Berge kriechen und der Ebene und der schönen Stadt leckende Flammen und Tod bringen sollten.« Er versammelte »seine geschicktesten Schmiede und Zauberer, und aus Eisen und Flammen schmiedeten sie ein Heer von Ungeheuern, wie man sie nur zu dieser Zeit erblickt hat und bis zum Großen Ende nicht wieder sehen wird.«3
Außer Smaug, der entsetzlichsten aller Katastrophen, gab Tolkien nur noch drei anderen Drachen Namen: Scatha, Ancalagon und Glaurung.
Vielleicht hat Tolkien den Namen Scatha vom altnordischen skaða abgeleitet, aus dessen Bedeutung »schaden, beschädigen oder verletzen«. Der Drache lebte im Grauen Gebirge, nördlich vom Düsterwald. Fram, Sohn des Frumgar, tötete den gefürchteten »Langwurm« in den frühen Tagen der Éothéod, der Pferdemenschen von Rohan. Die Zwerge aus den Ered Mithrin forderten die Rückgabe der Schätze Scathas an sie, doch Fram schickte ihnen die Zähne des Drachen mit den Worten, »Juwelen wie diese habt ihr nicht in euren Schatzkammern, denn sie sind schwer zu bekommen.«4 Angeblich verlor Fram sein Leben in den darauf folgenden Auseinandersetzungen. Der Streit wurde später geschlichtet, doch seitdem herrschte Misstrauen zwischen den Zwergen und dem Reitervolk.5
Noch Jahrhunderte später gab es Drachen im Grauen Gebirge. Sie griffen fast vierhundert Jahre vor Smaugs Tod die Königreiche der Zwerge in den Ered Mithrin an. Der Krieg zwischen den Drachen und den Zwergen wütete fast zwei Jahrzehnte und endete erst mit dem Tod von König Daín dem Ersten und seinem zweitgeborenen Sohn Frór. Daíns ältester Sohn Thrór führte viele Überlebende zum und unter den Einsamen Berg (den Erebor), während sein jüngerer Bruder Grór die restlichen in die Eisernen Berge brachte. Die Ered Mithrin wurden aufgegeben. Der Kaltdrache, der Daín tötete, bleibt unbenannt.
Die größten Drachen allerdings bevölkern das Erste Zeitalter von Tolkiens Mittelerde.
Ancalagon der Schwarze war einer der ersten Drachen aus Morgoths Züchtung. In Sindarin bedeutet sein Name »Brausender Reißzahn« oder »Beißender Sturm«. Ancalagon wird in mythologischen Bildern beschrieben: Seine Flügel verfinstern die Sonne, er ist die Personifizierung einer zerstörenden Dunkelheit.
Im Krieg des Zorns, in der letzten Schlacht des Ersten Zeitalters, als die Valar die Armeen Morgoths bis vor das Tor seiner eigenen Bergfeste Angband in den dreizackigen Thangorodrim zurückgedrängt hatten, entfesselte er seine letzte Waffe, die er bis dahin zurückgehalten hatte: eine gewaltige Truppe von Drachen, mit dem Feuerdrachen Ancalagon an ihrer Spitze. Ihre Attacke war so übermächtig, dass die Valar in die aschebedeckte Ebene von Anfauglith zurückgetrieben wurden. Dort hätten sie wahrscheinlich den Tod gefunden, wäre nicht Earendil erschienen. Der Halbelbe Earendil kam aus dem Westen, er stand am Bug seines Schiffes Vingilot, das mit Silbersegel und Schwanenkiel sowohl durch die Wellen wie am Himmel segeln konnte. Ein Silmaril leuchtete hell auf seiner Stirn und durchdrang die beklemmende Düsternis. Mit ihm kamen die großen Adler, die von ihrem König Thorondor angeführt wurden. Sie kämpften einen Tag lang in den Lüften, bis Eardenil Ancalagon bezwang und ihn vom Himmel stieß. Der große Drache stürzte auf die Zacken des Thangorodrim, von dem nur Geröll übrig blieb. Die übrigen Drachen wurden von den Adlern getötet, doch einige entkamen und leckten ihre Wunden an den dunklen Orten von Mittelerde. Zumindest ein paar fanden Zuflucht in der Nördlichen Öde und der Dürren Heide, die weit entfernt im Norden des Grauen Gebirges lagen und zu einer neuen Brutstätte der Drachen wurden. Möglicherweise kam Smaug von dort, als er im Jahr 2770 des Dritten Zeitalters »wie ein Hurrikan von Norden« auf den Erebor und Thal hinabstürzte.
Es heißt, Ancalagon sei der größte Drachen, der jemals in Mittelerde gesehen wurde, doch der erste war Glaurung. Glaurung, der »Wurm Morgoths«, ist einer der gefährlichsten Drachen, und von allen Würmern Tolkiens ähnelt er seinem altnordischen Vorfahren Fáfnir am meisten. Morgoth züchtet die Drachen im Ersten Zeitalter, und von diesen ist Glaurung der erste der Urulóki.
Obwohl er flügellos ist, gilt er als Urahn seiner Gattung, er war der erste Drache, den Angband hervorbrachte. (Tolkien erklärt nicht, wie Morgoth die Drachen erschafft. Vermutlich ruft er böse Geister und gibt diesen eine körperliche Gestalt.)
In den großen Schlachten des Ersten Zeitalters bringt Glaurung seinen Feinden Unglück und Trauer. Zum ersten Mal taucht er in der Ruhmreichen Schlacht auf, in der die Armeen Morgoths besiegt werden und Glaurung eine erste bittere Kostprobe vom Mut der Elben erhält. »Dann ritt Fingon, der Prinz von Hithlum, mit berittenen Bogenschützen gegen ihn und kreiste ihn mit den schnellen Pferden ein. Und Glaurung konnte ihre Pfeile nicht aushalten, denn er besaß noch nicht seinen vollen Schuppenpanzer, und er floh zurück nach Angband und wurde viele Jahre lang nicht mehr gesehen.«6
Doch im Jahr 455 bezwingt der Drache die Noldori und ihre Verbündeten, und die seit Jahrhunderten währende Belagerung Angbands wird in der Schlacht des Jähen Feuers durchbrochen. »Vor dem Feuer ging Glaurung der Goldene, der Vater der Drachen, in seiner ganzen Stärke, und ihm folgten die Balrogs, und hinter ihnen kamen die unzähligen schwarzen Heere der Orks.«7
Siebzehn Jahre später besiegt er die elbischen Heere in der Schlacht der Ungezählten Tränen, doch er wird von dem Zwerg Azaghâl am Unterleib verletzt und schleppt sich zurück nach Angband. Glaurung führt seinen eigenen Ork-Stoßtrupp in die Schlacht von Turmhalad im Jahr 495, wo er die Noldor von Nargothrond bezwingt, die von Túrin Turambar angeführt werden. Danach richtet der Drache seine Aufmerksamkeit ganz auf die unterirdische Festung Nargothrond. Túrin kommt zu spät und kann sein Volk nicht mehr retten. Er muss mit ansehen, wie sie nach Norden in die Sklaverei verschleppt werden, während er unter dem Drachenbann steht und sich nicht rühren kann. Glaurung besetzt die Festung und verwandelt sie in seinen Hort, wo er als Drachenkönig auf den Schätzen liegt und seine Orkbanden auf Plünderzüge in das Königreich hinausschickt.
Doch Glaurungs Ende kam bald. Er hob den Bann über Túrin auf, denn der sollte die Niederlage seiner Leute am eigenen Leib miterleben können. Wenig später vernichtete Túrin einen Trupp Orks, die ihn angreifen sollten, wodurch Glaurung in seinem dunklen Hort aufgeschreckt wurde. Auf dem Weg zu seinen Feinden schleuderte Glaurung seinen massigen Leib über die Schlucht Cabed-en-Aras. »Dann sammelte Turambar all seinen Mut und Willensstärke und kletterte alleine in die Schlucht, bis er sich unterhalb des Drachens befand. Er zog Gurthang aus der Scheide, und mit der ganzen Stärke seines Arms und seines Hasses stieß er die Klinge tief in den weichen Unterleib des Wurms. Doch als Glaurung den tödlichen Stoß spürte, schrie er auf und in seinem Schmerz hob er seinen Leib und warf sich über den Abgrund. Dort wand er sich im Todeskampf und schlug nach allen Seiten um sich. Und er überzog das Land ringsum mit einem Flammenmeer und zerstampfte alles, bis schließlich seine Feuer verlöschten und er still dalag.«
Es gibt viele Parallelen zwischen Tolkiens Geschichte von Túrin und der Gestalt des Sigurd aus der altnordischen Mythologie. Beide erschlagen einen Drachen mit einem Schwert, das neu geschmiedet wurde, beide tun es, indem sie das Monster von unten in den Bauch stechen. Sowohl Fáfnir wie Glaurung besitzen hypnotische Kräfte: ihre Worte sind wie Gift und ihr Blick schlägt den, auf den er fällt, in einen Zauberbann. Und die Verfluchung durch den Drachen erfüllt sich letztendlich durch eine tragische Wendung des Schicksals, wegen der Túrin und seine Frau Níniel beide Selbstmord begehen.
Tolkien zieht sogar eine augenfällige Parallele zu Fáfnirs Schreckenshelm. Der Helm des Hador, den er in die Hände von Thingol weiterreichte, war von Telchar gefertigt worden, dem Schmied von Nogrod. »Der Helmkamm trug wie zum Spott das vergoldete Bild des Kopfes von Glaurung; der Helm war nämlich bald nach jenem Tag geschmiedet worden, an dem Glaurung zum ersten Mal aus den Toren Morgoths hervorgekommen war. Hador und nach ihm Galdor hatten diesen Helm oft im Krieg getragen. Wenn die Streiter von Hithlum ihn hoch über dem Kampfgetümmel aufragen sahen, schlugen ihre Herzen höher, und sie riefen: ›Höher steht der Drachen von Dor-lómin als der Gold-Wurm von Angband!‹«8 Der Helm wurde »der Drachenkopf aus dem Norden« genannt und später Túrin Turambar angeboten.
Glaurung entwickelte sich in Tolkiens Schriften. Das erste Mal tauchte er in der Geschichte von Turambar und dem Foaloke auf, eine der Erzählungen, die später im Buch der Verschollenen Geschichten veröffentlicht wurden. Hier wird der Drache als »Glorund, der Foaloke … der Wurm des Zorns« bezeichnet. Glorund wird von dem teuflischen Melko losgelassen mitsamt einer Gruppe Orks, die auf Wölfen reiten: »… und darunter war auch ein großer Drache mit Schuppen aus glänzender Bronze, in dessen Atem sich Feuer und Rauch mischten, und sein Name war Glorund.« (»Loke« ist der Name, den die Eldar den »Würmern Melkos« gaben.)
Elemente von Sigurd und Fáfnir klingen in Tolkiens Geschichte auch an, wenn er erzählt, wer von einem Drachenherzen koste oder Drachenblut auf der Zunge schmecke, von diesem Moment an »alle Sprachen der Götter und Menschen, der Vögel und Tiere« verstünde, und darüber hinaus auch »das Flüstern der Valar oder Melkos erlauschen könne wie niemals zuvor.« Doch Tolkien warnt auch: »Wenige hat es gegeben, die je eine solche Heldentat vollbracht und einen Drachen getötet haben, und selbst unter diesen Tapferen hatte keiner sich Blut und Leben des Drachen einverleibt, denn es ist wie ein feuriges Gift, das alle tötet, die nicht mit göttlicher Stärke ausgestattet sind.« Auch die Fabel des Phaedrus greift Tolkien auf, wenn er Melkos Drachen folgendermaßen beschreibt: »… so lieben diese ekelhaften Kreaturen ebenso wie ihr Herr die Lüge und lechzen nach Gold und kostbaren Dingen in rasendem Verlangen, obgleich sie diese weder benutzen noch sich daran erfreuen können.«
* * * *
Tolkien schuf noch zwei weitere bemerkenswerte Drachen. Chrysophylax Dives aus der humorvollen Geschichte des Bauern Giles von Ham, die 1949 veröffentlicht wurde, ist eine Mischung aus Kenneth Grahames Der Drache, der nicht kämpfen wollte (1898) und Smaug. Bauer Giles selbst ist ein widerstrebender Held. Er ist bewaffnet mit einer verlässlichen Donnerbüchse (die er nie abfeuert), einem magischen Schwert mit dem Namen Caudimorax (»Schwanzbeißer« erweist sich als sehr nützlich gegen Drachen) und einem größtenteils unverdienten Ruf, ein Held zu sein. Trotzdem gelingt es ihm, das Königreich von dem Drachen zu befreien und dabei auch noch reich zu werden.
Der andere Drache findet sich in Roverandom, das von den Eskapaden eines kleines Hundes namens Rover handelt, der »sehr klein und sehr jung war, sonst hätte er es besser gewusst.« Nach einigen Abenteuern und nachdem er einen Zauberer getroffen hat, bekommt Rover ein Paar Flügel verliehen, einen neuen Namen, Roverandom, und einen neuen Freund, eine Seemöwe namens Mew. Sie beschließen, zusammen zum Mond zu fliegen. Doch unglücklicherweise lebt dort ein Drache. »Alle Weißen Drachen stammen vom Mond, wie ihr wahrscheinlich wisst. Aber dieser eine war hinaus in die Welt gegangen und als er zurückkam, hatte er so manche Dinge erfahren. Im Zeitalter Merlins kämpfte er in Caerdragon gegen den Roten Drachen, wie ihr in allen neueren Geschichtsbüchern nachlesen könnt. Nach dem Kampf war der andere Drachen Sehr Rot. Später richtete er noch größere Verwüstungen auf den Drei Inseln an, und eine Zeitlang lebte er auf dem Gipfel des Snowdon.« Danach flog das Drachentier nach Gwynfa, »ganz in der Nähe des Endes der Welt, und von da war es für einen so riesigen Drachen, der zudem noch so furchtbar böse geworden war, ein leichter Flug weiter bis zum Mond.« Mit dem Rauch aus seinen Nüstern war er sogar schuld daran, dass der Mond rot wurde und sogar ganz erlosch.
Mew die Möwe ist so vernünftig und kehrt zur Erde zurück, während sich unser herumstreunender vierbeiniger Held mit dem Mann im Mond und vor allem dessen geflügelten Mondhund anfreundet. Und schon ist der Drache Roverandom und seinem neuen Gefährten auf der Fährte, wobei »ihm grünes Feuer aus jeder Pore tropft und er wie ein Dampfboot schwarzen Rauch ausstößt.« Fast hätte er sie erwischt, doch in letzter Sekunde finden sie Zuflucht in einem verzauberten Turm, der dem Mann im Mond gehört. Der verpasst dem Drachen einen Zauber, der sich nicht mehr entfernen lässt. Der Drache kracht mit voller Gewalt gegen die Bergwand und humpelt zurück in seine Höhle, wo seine Nase wieder heilt. »Die nächste Mondfinsternis fiel aus. Der Drache erschien erst gar nicht, denn er war mit der Wunde an seinem Bauch beschäftigt. Die schwarzen Klekse, wo der Zauber ihn getroffen hatte, ließen sich einfach nicht wegreiben. Ich fürchte, sie werden für immer an ihm haften bleiben. Man nennt ihn jetzt das Gefleckte Ungeheuer.«
In beiden Geschichten verbirgt sich hinter dem großväterlichen Ton ein breites, komplexes Wissen. Während Tolkien offensichtlich seinen Spaß an den Texten hatte, verwob er schon Fäden aus vielen anderen Geschichten in seine eigene, baute etymologische Sprachspiele ein und verfiel unweigerlich dem Zauber der Drachen.
* * * *
Tolkiens Freund und Kollege C. S. Lewis bediente sich des literarischen Motivseiner übermächtigen Begierde, die sich nicht nur in einer Verwandlung des Herzens, sondern auch des Körpers zeigt. Im fünften Buch9 der Narnia-Chroniken, The Voyage of the Dawn Treader, entdeckt Eustace Scrubb einen verlassenen Drachenhort. Er lässt sich auf dem Haufen aus Gold und Edelsteinen nieder und schläft ein, doch als er wieder erwacht, erlebt er eine besonders böse Überraschung. »Weil er auf einem Drachenschatz mit begehrlichen, drachenhaften Gedanken im Herzen eingeschlafen war, hatte er sich selbst in einen Drachen verwandelt.« In der Drachengestalt muss Eustace einige demütigende Erfahrungen durchstehen, bis er schließlich von Arslan selbst wieder in einen (sehr reumütigen) Jungen zurückverwandelt wird. Diese Geschichte bindet Lewis noch stärker an die alten, Schätze raffenden Würmer an, wenn er andeutet, der ursprüngliche Drache sei vielleicht selbst einmal ein Mensch gewesen. Ein Mensch, den seine Habgier in eine elende Bestie verwandelte, in deren Gestalt er bis zu seinem Tod in der düsteren Schatzkammer hockte und um den niemand eine Träne weinte.
* * * *
Man ist versucht, Tolkiens Drachen als die ersten zu bezeichnen, die aus Kinderreimen den Weg zurück in Texte für Erwachsene finden. Mit Sicherheit ist er der erste, der Drachen ernst nimmt und keine Notwendigkeit verspürt, sich von ihnen humorvoll oder satirisch zu distanzieren, sondern im Gegenteil mit großem Vergnügen eine Welt enthüllt, die den Drachen ihren angestammten Platz einräumt. In seinen eigenen Worten formuliert Tolkien: »Ich meine also, dass die Ungeheuer nicht eine unerklärliche Geschmacksverirrung darstellen, sondern sie sind das zentrale Fundament der dem Gedicht (Beowulf) zugrundeliegenden Vorstellungen, denen es seinen erhabenen Ton und den großen Ernst verdankt.«10
Tolkiens Geschichten entwickelten sich fast unabhängig von seinen Plänen, in gewisser Hinsicht brachte er wirklich einen Mythos zu Papier. In einem Gespräch über das Silmarillion beschrieb er, wie die Geschichten »als schon existierend in meinen Gedanken auftauchten, und genau wie sie mir eine nach der anderen kamen, so wuchsen auch die Verbindungen. Eine erfüllende Arbeit, die ständig unterbrochen wurde … aber ich hatte dabei immer das Gefühl, das ich aufschrieb, was schon irgendwo ›da‹ war, und nicht, als würde ich es erfinden.« 11 Der Biograph Tolkiens Humphrey Carpenter erklärt, dass Tolkien seine Mythologie als »… entfernt und seltsam verstand, und doch gleichzeitig nicht als eine Lüge. Er wünschte sich, dass die mythologischen und Sagen-Geschichten seine eigene moralische Sicht auf das Universum ausdrückten … Als er The Silmarillion schrieb, glaubte Tolkien, dass er in gewisser Hinsicht die Wahrheit schrieb … Er spürte, oder hoffte zumindest, dass seine Geschichten eine tiefergehende Wahrheit verkörperten.« 12 Humphrey fügt hinzu: »Im Lauf der Jahre betrachtete er die Sprachen und Geschichten, die er selbst erfunden hatte, immer mehr als ›wirkliche‹ Sprachen und historische Chroniken, die nur erklärt werden mussten.«
Durch seine Fiktion möchte uns Tolkien etwas über das Wesen von Legende und Mythos nahebringen. Im Herrn der Ringe – im Grunde eine ethische Queste und kein Epos wie Das Silmarillion und auch keine Abenteuergeschichte wie Der Hobbit – haben die Drachen ausgedient. Sie gehören in ein anderes Zeitalter.
Doch anderswo tauchen sie unerwartet zahlreich wieder auf und werden, als Nachfahren von Smaug, zu den beliebtesten Kreaturen der modernen Fantasy. Smaug der Goldene ist vielleicht der letzte Drache in Mittelerde, aber er ist bestimmt nicht mehr der einzige.
1 J. R. R. Tolkien, Der Hobbit (Klett-Cotta, 2010).
2 Aus den Briefen von J. R. R. Tolkien (Klett-Cotta, 2003 [1981]). Brief 22 vom 18. Dezember 1949.
3 Aus J. R. R. Tolkien, Das Buch der Verschollenen Geschichten (Klett-Cotta, 1986 [1984]).
4 Dies könnte auch eine Metapher für eine Fehde oder eine Kriegserklärung sein, denn bewaffnete Krieger wuchsen aus den Drachenzähnen, die Kadmos und Jason gesät hatten.
5 Zu Scathas Tod wird kein Datum überliefert, aber wahrscheinlich ereignete er sich in der Frühzeit von Éothéod, um das Jahr 2000 des Dritten Zeitalters. 2589 D. Z endete der Krieg zwischen den Drachen und den Zwergen endete mit Daíns Tod. Bard erlegte Smaug im Jahr 2941 D. Z. »Langwurm« sollte nicht als Teil von Tolkiens Taxonomie betrachtet werden, es ist einfach eine Kenning.
6 J. R. R. Tolkien, Das Silmarillion (Klett-Cotta, 2015 [1992]).
7 Ibid.
8 J. R. R., Nachrichten aus Mittelerde (Klett-Cotta, 1983).
9 The Voyage of the Dawn Treader wurde als dritten Buch der siebenteiligen Chroniken von Narnia veröffentlicht, nach The Lion, the Witch and the Wardrobe und Prince Caspian. Doch The Magician’s Nephew, das ursprünglich als zweitletztes Buch erschienen war, handelt von Dingen, die in Narnia vor den Ereignissen der anderen Büchern stattfanden. Es wird heute oft als erster Teil der Serie angesehen. Das als fünftes veröffentlichte Buch, The Horse and his Boy, gilt chronologisch als der dritte Teil. Die beiden noch fehlenden sind The Silver Chair (an vierter Stelle veröffentlicht) und The Last Battle.
10 »Beowulf: Die Ungeheuer und ihre Kritiker«, ein Vortrag, den Tolkien 1936 gehalten hatte und der auf Deutsch in Gute Drachen sind rar (Klett-Cotta, 2002 [1984]) erschienen ist.
11 J. R. R. Tolkien: Eine Biographie, von Humphrey Carpenter (Klett-Cotta, 2004 [1977]).
12 Ibid.